Mit dem digitalen, individuellen Pricing wird für E-Commerce-Anbieter das Micro-Targeting praktisch umsetzbar: Sie können die Höhe der Angebotspreise für jeden Online-Shopper individuell auf Standort und wahrscheinliche Kaufkraft, Tageszeit und wahrscheinliche Kauflaune sowie Kategoriepräferenz und wahrscheinliche Warenbegehrlichkeit abstimmen. Wird damit der Verbraucher zur Roulette-Kugel im großen E-Commerce Casino?
Pricing ist eine zentrale Funktion im Marketing-Mix. Über das Pricing wird der Wert von Produktmarken ausgesteuert. Der richtige Preispunkt entscheidet über Absatz, Umsatz, Rentabilität. Traditionelle Preisforschung ermittelt Preiserwartungen, Preisschwellen und Preiskorridore, die dem Marketing und Vertrieb Orientierungsmarken geben.Wie so vieles könnte die traditionelle Preisforschung im Rahmen des digitalen Change in Frage gestellt werden. Denn mit dem E-Commerce kommen die neuen Möglichkeiten des digitalen individuellen Pricings.Was ist konkret darunter zu verstehen? Online-Anbieter können die abweichenden Preisbereitschaften der Kunden direkt antizipieren und den Preis direkt danach anpassen. Wenn man z.B. ein Produkt mit einem iPhone bestellt, ist die Wahrscheinlichkeit einer höheren Preisbereitschaft größer, als wenn man mit einem Android-Smartphone bestellt. Wenn man in einem Internet-Café in einem Migrantenviertel in Berlin-Neukölln sitzt und eine Reise bucht (die IP-Adresse verrät das), erhält man ein günstigeres Angebot, als wenn man die gleiche Reise von einem schicken Stadtteil wie Charlotttenburg oder Grunewald aus bucht.
Den Möglichkeiten durch digitales individuelles Pricing sind in den Zeiten des Big Data tendenziell kaum Grenzen gesetzt. Individuelle Nutzerprofile zeigen, bei welchen Warengruppen und Marken der Geldbeutel besonders locker sitzt. Die Einkaufsbereitschaft lässt sich auch nach Wochentagen oder sogar Tageszeiten vorausbestimmen. Manche Kunden sind besonders am Freitagabend in Kauflaune, andere während der Büropause Dienstag nachmittags um drei.
Sicher mögen hier die Algorithmen bisweilen irren, und einige Grundgesetze des „General Pricings“ lassen sich durch das „Individual Pricing“ nicht außer Kraft setzen. Dennoch verschieben sich durch das digitale individuelle Pricing einige Grundverhältnisse des Marktes weiter.
Die im digitalen Konsum gerade erst neu gewonnene Macht des Konsumenten – nach Lust und Laune vergleichen, hohe Preistransparenz ausnutzen – entpuppt sich als Scheinmacht. Denn der Konsument bleibt im Glauben, einen objektiv günstigen Preis oder sogar Bestpreis zu erzielen. In Wirklichkeit wird ihm, ohne dass er es weiß und mitbekommt, ein individuell auf ihn zugeschnittener Preis geboten.
Damit setzt sich ein Markttrend fort, der inzwischen seit Jahrzehnten auf dem Vormarsch ist: die Verschiebung des Preisverständnisses vom Substanzwert zum Preisverständnis vom Handelswert. Was ist damit konkret gemeint? Traditionell hat bei den Kunden ein Preisverständnis vorgeherrscht, das darauf beruhte, den Wert und damit den Preis der Produkte und Marken mit der darin gebündelten Substanz in Zusammenhang zu bringen. In die Produktion eines Anzugs fließen die Kosten für die besonderen Stoffe und Tücher, die Arbeit des Designers und so und so viel Arbeitsstunden der Textilarbeiter ein.
Entsprechend dem konkurrierenden Preisverständnis des Handelswerts funktioniert Preisbildung ganz anders: Je nachdem, welche Nachfrage und Begehrlichkeit besteht, und je nachdem, wie stark sich der Anbieter damit auf den Markt drängt, kann der gleiche Anzug bei C&A 100 EUR kosten, bei P&C dagegen 150 EUR.
Der Handelswert löst sich in der modernen Handelslandschaft oft vollständig vom Substanzwert ab: So gibt es Ryanair-Flüge für 10 EUR – was die Markenstory stützt, aber nicht die Kerosinkosten deckt – oder zerrissene T-Shirts von italienischen Designerlabels für 500 EUR – was nichts mit dem Design-, Produktions- oder Materialwert zu tun hat, sondern mit der Begehrlichkeit der exklusiven Marke.
Der Konsument hat sich längst daran gewöhnt, dass es alles zu fast jedem Preis gibt – und das hat auch seine Konsumlaune im E-Commerce immer aufs Neue beflügelt. Denn als sein persönlicher Handels-Broker, der gleichzeitig tausende von Einkaufsstätten im Blick behält, hat er die ungemeine Macht hinzugewonnen, von den Preisausschlägen in der Welt der Handelswerte zu profitieren.
In einem unserer Tiefeninterviews hat eine Testperson diesen Machtzuwachs einmal so beschrieben: „E-Commerce ist wie Roulette – nur dass man immer gewinnt und nie verliert.“
Wenn den Konsumenten die Möglichkeiten des digitalen individuellen Pricings erst einmal bekanntgemacht werden (durch kritische Berichterstattung, Verbraucherschützer usw.), ist abzusehen, dass ihr König-E-Commerce-Kunde-Gefühl beträchtlich getrübt wird. Sie mögen sich dann wie die Roulettekugeln im undurchsichtigen Preiscasino des E-Commerce fühlen.
Für weitere Informationen zum Thema Digitales individuelles Pricing kontaktieren Sie bitte Dirk Ziems (dirk.ziems@test.local).