Die Fallstricke der Nachhaltigkeit

07.06.2023
Thomas Ebenfeld

Nachhaltigkeit – Gebot der heutigen Zeit

Das Bewusstsein für Nachhaltigkeit hat in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren den breiten Mainstream erreicht. Die Folgen der Klima-Erwärmung, Carbon-Footprint, Plastikvermeidung, die Probleme der Tierhaltung und viele andere Themen sind omnipräsent in Politik, Medien und den Alltagsgesprächen der Menschen. 

Für den Mainstream der Konsumierenden ist es ein Anliegen, das eigene Konsumverhalten stärker in Richtung Nachhaltigkeit auszurichten. 

Plastik vermeiden, Energie einsparen (nicht nur vor dem Hintergrund der Gaspreise) oder bei Produkten auf kritische Inhaltsstoffe wie Palmöl zu achten – all das sind Maßnahmen, die sich viele Konsumenten vornehmen. Dementsprechend ist in den letzten Jahren eine Art Nachhaltigkeits- Konsum-Knigge entstanden: 

Anspruch und Wirklichkeit: Der Mind-Do-Gap der Mainstream-Konsumierenden

Doch die Vorsätze zur nachhaltigen Veränderung des Konsumentenverhaltens treffen regelmäßig auf eine Veränderungsresistenz. Nachhaltigkeit steht in einer Konsumwelt, in der alles immer überall und sofort zur Verfügung zu stehen scheint, noch immer in erster Linie für Verzicht, Einschränkung und Aufgabe von Bequemlichkeit und erreichtem Status. Entsprechend ist die Aufgabe liebgewonnener Konsumgewohnheiten mit Widerständen verbunden. Auch in der Klimakrise will man auf seine Flugreisen nicht verzichten (siehe aktueller Reiseboom). Es wird weiterhin im Sommer viel Fleisch gegrillt, weil das zum Vorstadtgarten einfach dazu gehört. Fast Fashion von h&m oder zara ist weiterhin bei vielen jungen Konsumierenden beliebt.

Es entstehen zwar neue Status-Ordnungen wie beispielsweise der Kult um das Lastenrad als ethisch überlegenes Transportmittel im Vergleich zum SUV, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Aber selbst die Klima-Aktivisten verstricken sich in Widersprüche, wenn auffliegt, dass sie für den Badeurlaub nach Bali geflogen sind.

Nachhaltigkeit light: Feelgood- und Forgiveness-Faktoren

In unseren zahlreichen tiefenpsychologischen Studien zum Thema Nachhaltigkeit beobachten wir, dass die dominante Form des Umgangs mit der eigenen Inkonsequenz oder den Mind-Do-Gap bei Mainstream-Konsumierenden ein Wechselspiel von Feelgood- und Forgiveness-Faktoren ist:

Die Konsumierenden fühlen sich gut und im Einklang mit ihren nachhaltigen Werten, wenn sie beim Konsum eine nachhaltige Entscheidung getroffen haben – beispielsweise Bio-Eier statt Legebatterie-Eier, Fleisch mit Haltungsstufe 3 statt beengter Haltung ohne Tageslicht, die Bahn statt einem Flieger genommen, die Heizungen zu Hause mit smarten energiesparenden Thermostaten ausgestattet und so weiter und so fort…

Wenn andererseits nicht-nachhaltige Konsumgewohnheiten durchschlagen, wie beispielsweise der Burger-Konsum oder die Wochenendtrip mit dem Flieger nach Barcelona, möchten sie sich dafür nicht schlecht und sündig fühlen.

Die Alltagswelt ist so komplex und die konsequente Berücksichtigung von Nachhaltigkeit so unpraktikabel, dass man sich nicht selbst ständig kasteien und an den Pranger stellen möchte.

Das Wechselspiel von Feelgood- und Forgiveness-Faktoren trägt dazu bei, dass sich die meisten Mainstream-Konsumierenden insgesamt auf dem „richtigen“ Weg der nachhaltigen Transformation erleben. „Es passiert ja einiges in meinem Konsumalltag“, so das neue Konsumgefühl, „auch wenn eine tiefgreifende Umstellung vielleicht noch einige Zeit braucht.“

Ringen um Konsequenz und Entschiedenheit

An diesem Punkt tritt aber auch eine neue gesellschaftliche Polarisierung ein: ökologisch engagierte Strömungen weisen in alarmistischer Art darauf hin, dass die „Wasch mich – aber mach mich nicht nass“-Mentalität der Feelgood- und Forgiveness nicht hinreicht, um die erforderliche Transformation in der notwendigen Kürze der Zeit zu bewerkstelligen.

Andere Strömungen der Gesellschaft halten die neuen Nachhaltigkeits-Knigge und neuen Verbotsbestrebungen (Verbrenner-Aus, Gasheizungs-Aus) für überzogen und bevormundend. In unseren Interviews beobachten wir, dass der Mainstream der Konsumierenden zwischen den genannten Standpunkten hin und her schwankt: Einerseits kann man verstehen, dass der Wandel schneller gehen muss. Andererseits sieht man auch, dass ein allzu radikales Umsteuern nicht funktionieren kann.

Umso stärker greift die Tendenz, insbesondere im Konsumbereich die Verantwortung für Nachhaltigkeit auf Staat, Politik, Wirtschaft, Industrie, Marken und Unternehmen zu delegieren. Man erwartet von Unternehmen und Marken, dass sie sich des Themas annehmen und mit Initiativen vorangehen.

Die Fallstricke der Nachhaltigkeit

Die Marken und Unternehmen stehen dementsprechend unter Druck, ihre Aktivitäten nach Nachhaltigkeitsgesichtspunkten umfassend neu auszurichten und den Konsumenten ihr Verantwortungsbewusstsein in Hinblick auf Nachhaltigkeit deutlich zu machen.

Doch unserer Erfahrung nach ist das leichter gesagt als getan. Die Unternehmen und Marken bewegen sich leider sehr schnell in ein Minenfeld hinein, wenn sie die Nachhaltigkeits-Transformation angehen.

Diese drastische Feststellung scheint zunächst überzogen zu sein. Wenn wir aber unsere Erfahrungen aus fünfzehn Jahren Nachhaltigkeitsprojekten Revue passieren lassen, können wir ein Lied davon singen, welche Fallstricke das Thema Nachhaltigkeit mit sich bringt.

Fallstrick 1: Entlarvung und kritische Sensibilisierung

Es gibt viele Produkte, deren Neu-Ausrichtung für Nachhaltigkeit erst recht ihr bislang schädliches oder ethisch bedenkliches Potenzial ins Bewusstsein rückt: Beispielsweise das Label „ohne Küken-Töten“ auf der Eierpackung oder der Hinweis auf eine Conscious-Collection, die Kinderarbeit bei der Textilproduktion vermeidet. Die Kommunikation der eigentlich positiven Maßnahmen kann hier gegen die Marke und gegen das Produkt zurückschlagen, weil sich die Konsumierenden aus dem Raum der Sorgenfreiheit verstoßen fühlen und anfangen, sich in die verdrängten Schattenseiten der Produkte hineinzudenken (im Beispiel: weiterhin Horror der Massentierhaltung; weiterhin ausbeuterische Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken).

Fallstrick 2: Ankündigungsfalle

Die Nachhaltigkeits-Transformation kann nicht auf Knopfdruck und nicht über Nacht umgesetzt werden. Sie setzt ein Re-Engineering fast aller Unternehmensprozesse voraus und das braucht Zeit, Geduld und Ausdauer. Ein Denken, dass der ungeduldige Konsument meist nicht nachvollziehen kann und nachvollziehen will. Während die Unternehmen mit einigem Stolz ihre Nachhaltigkeits-Fortschritte verkünden wollen – beispielsweise mit Ankündigungen wie „CO2 neutral bis 2035“ oder „vollständig recyclebare Verpackung außer dem Plastikanteil“ –, entsteht bei Verbraucherinnen und Verbrauchern paradoxerweise der Eindruck, das ginge alles viel zu langsam, da würde nur angekündigt und die Schritte wären viel zu halbherzig.

Fallstrick 3: Schwache Proofpoints und Greenwashing

Wenn Ikea damit wirbt, dass seine Einkaufstaschen und Tupperdosen aus recycletem Kunststoff produziert sind, oder wenn der Energieanbieter Vattenfall neue Windparks vorzeigt, dann wird das von vielen Konsumierenden als schwacher Proofpoint angesehen. Denn sie sind kritisch geworden und legen an alle Nachhaltigkeitsmaßnahmen zuerst einen methodischen Zweifel an. Betreibt Vattenfall nicht noch immer Braunkohlekraftwerke in Ostdeutschland? Ist IKEA nicht zuletzt mit der Rodung sibirischer Urwälder aufgefallen? Wird hier nicht ein großes Greenwashing aufgefahren?

Auch wenn an den Vorwürfen gar nichts dran ist, sollten die Proofpoints unhinterfragbar, nachvollziehbar und innovativ sein – erst dann dokumentieren sie in überzeugender Weise die Ausrichtung zur Nachhaltigkeit.

Fallstrick 4: Siegeleritis

Viele Unternehmen versuchen, ihre Nachhaltigkeitsbemühungen mit diversen Siegeln zu untermauern. Die Siegel-Hitparade wird von Fair Trade, FSC oder utz angeführt. Das Problem dabei: Leider ist inzwischen ein gewisser Wear-Out-Effekt bei der Siegeleritis entstanden. Die Konsumierenden bemerken eine Inflation der Zertifizierungen. Es scheint einen Markt der Siegel zu geben – gegebenenfalls sind Siegel auch bestechlich oder Kriterien der Zertifizierung werden manipuliert. Siegel sind sicherlich weiterhin als flankierende Maßnahme wichtig, aber ihre Überzeugungskraft sollte nicht überschätzt werden.

Fallstrick 5: Nachhaltigkeitsfokus überschattet Kategoriemotive

Insbesondere Start-ups, die ihre Produkt-Positionierung auf Nachhaltigkeits-Stories basieren, laufen Gefahr, dass sie die Ansprache kategorialer Grundmotive verfehlen. Ein Beispiel: Die vegane Schokolade aus Fair-Trade-Produktion mag zwar in der Nachhaltigkeitsdimension und nach den ESG-Kriterien alles richtig machen. Doch der gewünschte cremige Schokoladengenuss stellt sich nicht ein. Die Schokolade schmeckt vertrocknet und sandig-herb – wie ein Produkt aus der früheren sozialistischen DDR-Mangelwirtschaft.

Fallstrick 6: „Woke“ Demonstration der guten Tat und die Bullerbü-Falle

Einige hauptsächlich englische und amerikanische Schokoladen- und Kaffee-Marken haben sich einer konsequenten Teilhabe an organischer und nachhaltiger Produktion verschrieben. Wer diese Marken konsumiert, ist Teil des Herstellungs-Zyklus des perfekten Produkts. Die Kommunikation der Marken wird von authentischen Bildern der verschiedenen Produktionsstufen in den Ursprungsländern bestimmt: Es geht dabei um die Sinnlichkeit der Ernte, des Röstens der Bohnen, der Verarbeitung und der Zubereitung.

Für die idealistisch engagierten Konsumierenden werden Kaffee und Schokolade zu mehr als Verbraucher-Produkten. Statt nur etwas zu verzehren, zelebrieren sie damit einen Spirit, sich für intakte, heilsbringende Verhältnisse einzusetzen.

Für „normale“ Mainstream-Konsumierende entsteht jedoch leicht ein abgehobener Eindruck: Der urige Kakao-Bauer hegt und pflegt die Pflanzen, als wären es seine Kinder. Der CEO der Kaffeerösterei fährt in die Plantage, um den Kindern Schulunterricht zu geben. Hier wird scheinbar ein Kult inszeniert, der mit dem realen Leben wenig zu tun hat. Urmenschen und Gutmenschen zelebrieren sich selbst und ihren (überteuerten) Kaffee / Schokolade. Im exotischen Dschungel kommt ein Hauch von Bullerbü-Romantik auf …

Orientierung im Labyrinth der Nachhaltigkeit

Die genannten Beispiele und psychologischen Zusammenhänge zeigen: Es gibt viele Fallstricke, aber auch viele Opportunities, Nachhaltigkeit für die Unternehmen und die Unternehmenskommunikation richtig zu spielen. Jede Branche, jedes Unternehmen, jede Marke und jedes Produkt steht dabei vor neuen Herausforderungen.

Wie gelingt es, den Weg aus dem Labyrinth der Nachhaltigkeit zu finden? Die psychologische Marktforschung, die die spezifischen Zusammenhänge von Kategorie, Konsumentenwahrnehmung und Nachhaltigkeitsbildern entschlüsselt, kann der Schlüssel für den Erfolg der Nachhaltigkeits-Transformation und -Kommunikation sein. Die Erfahrung unserer vielen Projekt für die Nachhaltigkeitskommunikation zeigt, dass es keine Patentlösungen gibt und dass jedes Unternehmen seinen ganz individuellen Weg zur Nachhaltigkeit gestalten sollte.

Die Autoren danken Werner Detering, Gloria Becker und Jörg Mertens für Mitarbeit und Unterstützung.

Dieser Artikel erschien zuerst auf marktforschung.de (https://www.marktforschung.de/marktforschung/a/die-fallstricke-der-nachhaltigkeit/)

Thomas Ebenfeld
Thomas Ebenfeld ist Psychologe und Experte für tiefenpsychologische Marketingforschung. Er ist Mitbegründer der Global Research Boutique Concept M und der Marketingberatung Flying Elephant. Schwerpunktthemen seiner Arbeit sind kulturpsychologische Grundlagenstudien, Forschung zur gesellschaftlichen Transformationen, sowie die Untersuchung von Marken, Medien und Kommunikation im globalen Kontext. Er ist Speaker bei Branchentagungen und Gastdozent an Hochschulen.
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